Mein Zugang zur Klassik war zuvor völlig unvorhersehbar und brauchte einige Jahre, bis ich mir meiner Sache sicher war. Wie jede Beziehung war und ist auch diese voller Höhen und Tiefen.
Hier folgt mein langer, höchst subjektiv verfasster Erlebnisbericht. Schenke dir noch mal nach und lehne dich entspannt zurück:
Zwischen meinem 16. und 18. Geburtstag hörten wir in der Schule ganze 4 Mal Klassik, die mich nicht wie die andere Klassik nervte (obwohl ich das gerne trotzdem so gehabt hätte):
Zunächst Beethovens 5. Sinfonie, für ca. 6 Schulstunden in üblicher Weise (also in kleine Späne zerhäckselt) durchgenommen und dann - zum Glück - zum Schluss wenigstens einmal auch am Stück durchgehört: Endlich bestand Zeit zum Wegdriften, zum Raus- und wieder Reinzoomen in diese Musik, und zum dabei bewußt werden, dass es in dieser langen Musik "auch"

tonal "schöne"/unterhaltsame/spannende Passagen gab. Insgesamt gar nicht mal wenige....
Diese Unterschiede waren für mich nur beim Durchhören erkennbar, jedoch nicht bei der schrecklichen mikrochirurgischen Sezierarbeit, die sonst in der Schule unter Musikanalyse verstanden wurde (diese Herangehensweise war verständlich für die Mitschüler, die ein klassisches Instrument spielten - sie richtete sich an Menschen mit Vorwissen aus dem Elternhaus. Sie war
miserabel und kontraproduktiv für nichtklassisch Musizierende).
Als am Schuljahrsende überraschend ein Stündchen Zeit übrig war, legte Herr Lang uns noch Schuberts Unvollendete (in der Zählung meist seine 8. Sinfonie) auf. Ohne lange Vorträge, dafür am Stück. Zu meinem Entsetzen gefiel mir diese Musik auch, sogar besser als Monate zuvor die von diesem Beethoventyp.
Konsequenzen zog ich daraus zunächst nicht. Ich hörte weiter Deep Purple, Gillan, überhaupt
NWoBHM. Saga, die ihre Hooklines, Riffs und Breaks teilweise wie klassische Motive gestalteten, wurden meine Leib- und Magenband, später gleichberechtigt BAP, zum Chillen Kitaro und Gandalf. Nur hat 1982 noch niemand Chillen dazu gesagt.
Dann wurde mir im Freundeskreis von 2 Hardrock- und Saga-Freunden gegen meinen heftigen Protest Beethovens 6. aufgelegt, die glücklicherweise einen individuellen Zusatznamen trägt: "Pastorale" (ländliche) Sinfonie. Man kann sie sich also verwechslungsfrei merken. Wieder stellte ich fest: Das Stück von Beethoven ist "schon irgendwie auch"
schön.
(Zumindest seine Sinfonie 5 + 6. )
Denn ich dachte damals ja noch fälschlicherweise: Die Musikstücke von diesen erfurchtgebietenden geistigen Spitzenkreativen des Abendlandes sind untereinander vollkommen heterogen, nur von Fach- und Übermenschen überhaupt zu erkennen, so wie nur ein Spezialist mit der Lupe den Diamanten erkennt, etc.
Noch waren 3 geistige Schritte und Begegnungen nötig:
1. Mir dämmerte: Wenn Beethovens Sinf 5 und Sinf 6
beide nicht übel sind, dann vielleicht, weil sie einander möglicherweise doch.....
ähnlich sein sollten? Verwandt miteinander??
Bloß: Durfte man solch ketzerische Gedanken über die erhabene, unbefleckte, unantastbare Klassik überhaupt haben?
Denn wenn uns eine LP einer Rockband gefiel und eine zweite LP dazu, dann eigneten wir uns schlüssig ihr restliches Oevre an. Weil es musikalisch eng
verwandt war. Ich glaubte, dies läge daran, dass meine von den Eltern und Lehrern verhassten "ungebildeten" Rockmusikidole primitiv und einfältig komponierten. Im Gegensatz zu den unantasbaren Monumenten der klassischen Musik, die für einen wie mich eben unverständlich blieben...
SOLLTE DAS
VERWANDTSCHAFTSPRINZIP ETWA AUCH FÜR DIESE UNBE- und UNANGREIFBAREN, AMORPHEN, PER GEHÖR NICHT WIEDERERKENNBAREN KLASSIKMUSIKSTÜCKE GELTEN???
Ich war ratlos und hielt für 2 weitere Jahre den Mund.
2. In Klasse 11 fiel der Musikunterricht komplett aus bis auf die letzten 3 Wochen des Schuljahres. Schnelldurchgang war angesagt! Der von Toxoplasmose wiederauferstandene Herr Mack nahm sich nur 3 (!) Minuten Zeit fürs Anspielen von Debussy's "Prelude an den Nachmittag eines Fauns"....
Doch diesen 3 Minuten bei Herrn Mack verdanke ich meinen entscheidenden Paradigmenwechsel!
Meine Entdeckung: Klassik muss nicht spießig sein. WAS SIND DAS NUR FÜR FANTASTISCHE AKKORDE BEI DEBUSSY???
Baden wollte ich in diesen wunderbaren Tonarten! Baden.
[Exkurs-Modus]
Tonalität
Tonalität definiere ich hier mal ganz salopp als "(Werkbezogener) Ausschnitt aus der Welt der Tonarten". Ich empfinde sie als die gezielt vom Komponisten eingesetzte/variierte "Balance zwischen Harmonie und Disharmonie".
Für mein Empfinden wechselt das
Aroma der Tonalität zwischen verschiedenen Komponisten. Es hängt besonders von der Entstehungszeit der Musik (Welche kulturgeschichtliche Epoche?) und der Nationalität ihres Komponisten ab (Russland, Böhmen, Deutschsprachiger Raum, Italien, Frankreich, ab ~1890 auch England, Spanien, USA, Skandinavien: National sind nicht nur ihre Küchen, sondern genauso die
Akkordfolgen und -farben...).
Just my 2 Cents
[/Exkurs-Modus]
Trotz punktueller Schönheit (s. o.) empfand ich damals Beethoven und Schubert wegen ihrer
Tonalität noch als spießig, süßlich, harmoniesüchtig. Mozart war wegen seiner Tonalität bis vor wenigen Jahren einfach nur grauenhaft für mich, bzw. ein hervorragend wirksames Schlafmittel. "Den höre ich dann, wenn ich 65 bin", provozierte ich angriffslustig - und schlief bei seiner Musik sofort ein. Physiologisch! Auch und besonders in Konzerten...
Diese vermeintliche "Süßlichkeit" der Tonalität war der Knackpunkt, der mir trotz der bis dato geschilderten einzelnen Positiverlebnisse den Zugang "zur Klassik" nicht möglich gemacht hatte! Es war der einzige Knackpunkt, der in der Musik selbst begründet lag.
Meine Folgerung mit 18 Jahren: Aha, nimm Debussy und
Chinatonleiter (die hat nicht 8 Tonsprünge bis zur Frequenzverdopplung/-halbierung = Octave, sondern
5. Daher
Pentatonik). Schon ist es nicht mehr spießig!
In Klasse 12 fiel der Unterricht nicht mehr aus, zuhause verabschiedete ich mich von der öden Monotonie des Heavy Metal, nachdem ich bei einem Iron Maiden-Konzert in Ludwigshafen vor Langeweile am liebsten gegangen wäre. Stattdessen hörte ich BAP, Marillion und Chris Rea (hat 1980-1986 hervorragende Songs gemacht!

) rauf und runter, kannte jede Textzeile auswendig und sang bis zum Abitur in einer Band.
Auf dem Pausenhof bat ich meine neue Musiklehrerin, in deren Chor ich auch war, um Rat und kaufte mir daraufhin eine Debussy-LP mit "La Mer", bewusst in digitaler Einspielung, da die analogen Platten von Eltern und Musiklehrern für mich damals fürchterlich grammophonisch klangen: Blaues Cover, (La Mer; Drei Nocturnen; Prélude à l'Après-midi d'un Faune) mit André Previn und den Londonern. Ich tat mich schwer damit, es war mir zu disharmonisch! Schließlich wollte ich die Platte als Fehlinvestition abschreiben, kam einige Monate später aber allmählich doch noch an diese Musik heran. In einer Unterhaltung bekräftigte ein Freund: "La Mer" ist schön! Seither konnte ich das Wort "schön" auch auf Klassik anwenden, vorher nicht (der letzte Paradigmenwechsel).
Warum hat man uns damals nur zu solch idiotischer Ehrfurcht vor Klassik erzogen? Es hätte so einfach sein können!!!
Ich war sehr am Fach Geschichte interessiert, und der Deutschunterricht hatte mir kulturelles Hintergrundwissen für geistige Strömungen und Kunstepochen wie "Klassik", "Romantik", "Barock" mitgegeben. Debussys "Epoche" (oder "Etikett") nannte sich "Impressionismus", im Kunstunterricht erfuhren wir ein Jahr später schließlich auch darüber mehr. Ich begann dadurch, Musik im Spiegel ihrer jeweiligen Zeit zu betrachten. Das brachte mir später die verschiedensten klassischen (und früheren und späteren) Musikströmungen hautnah, bis heute ist es für mich ein wichtiger Zugang. Auch in umgekehrte Richtung, also als Zeitreise in Lebensgefühl und Weltkenntnisstand zur Entstehungszeit dieser Musik! Oft stelle ich mir heute vor, wie laut eine Berliner Straße zu Schumanns Zeiten war, mit all den trappelnden Pferdehufen und eisenbereiften Rädern auf dem Kopfsteinpflaster.... Der Besuch von Gemäldegalerien hilft da auch sehr gut weiter.
3. Das dritte Schlüsselerlebnis brachte ein Supersonderangebot im Werbeprospekt vom Plattenladen, denn damals war Klassik nur unglaublich teuer zu bekommen. Ich riskierte ein zweites, ein kostspieliges Klassik-Experiment mit ungewissem Ausgang. Beklommen kaufte ich für stolze 58 Mark (eine Menge Geld für einen 13.-Klässler!) Anfang 1986 als Versuchsballon eine ganze LP-Box: Otto Klemperers Gesamteinspielung der Beethoven-Sinfonien. Die Aufnahmen waren uralt! Aus den 1950er Jahren, sonst hätten sie leicht das Drei- oder Vierfache gekostet. Ich kaufte "billig" und komplett: Das waren meine einzigen Anhaltspunkte. Erstaunlicherweise war die Klangqualität nicht allzu schlecht, wenn auch deutlich schlechter als vom digitalen Debussy.
Die Begegnung mit ausgerechnet dieser Beethoven-Box war ein glücklicher Zufall, und heute weiß ich, dass Klemperers Einspielungen singulär sind. Es sind die einzigen LPs meiner LP-Sammlung, die ich heute gerne wieder anhören können würde - am liebsten von Festplatte. Im Zuge der Digitalisierung verschenkte ich sie, erbte sie aber später wieder zurück. Niemals werde ich diese LP-Box nochmal hergeben! Auch wenn ich sie schon seit 20 Jahren nicht mehr abspielen kann. Leider ist LP für mich ein Zweig der Audiophilie, den einzuführen für 8 LPs nicht lohnt. Schön wären Festplatten-Rips von meinen Beethoven-Lps in guter Qualität. Leider kenne ich in ganz Berlin niemanden, der einen hochwertigen Dreher sein Eigen nennt.
Gezündet hat diese Musik nach dem Kauf ebenfalls erst allmählich, ein Jahr später, während meines Wehrdienstes. Am Wochenende durfte ich meistens nach Hause reisen. Auf der stundenlangen Rückfahrt in die Kaserne gingen mir die Melodien nicht aus dem Kopf, dann und nur dann, wenn ich zuhause Beethoven aufgelegt hatte. Schnell bemerkte ich, wie schwer mir die Woche in der fernen Kaserne fiel, wenn ich am Wochenende zuvor keinen Beethoven aufgelegt hatte! Ich brauchte diese Musik - zumindest in meinem Kopf musste ich sie spielen hören!
DAS war der dritte Knackpunkt!
Nun ging alles sehr schnell. Ein Blitzeinschlag hatte nach meinem Abitur den Amp und Tuner der Teenietage in die ewigen Jagdgründe geschleudert. Der Plattenspieler (Pioneer PL 400 X) überlebte. Von meinem Sold hatte ich schließlich einen Yamaha A-520 und für den rumpelnden Pioneer-Direkttriebler einen Yamaha-MC-9-Tonabnehmer erstanden. Dieses Team hatte an meiner persönlichen Entdeckung Beethovens entscheidenden Anteil: Ich hörte viel mehr Details in meinen bekannten Kate Bush-Platten und den mir unbekannten Klemperer-Aufnahmen, und war entzückt, wie das Ganze plötzlich "sang". Ich hatte die Wichtigkeit von Verstärkerklang und Tonabnehmergüte entdeckt, bald kam mein erster CD-Player hinzu. Schnell entdeckte ich: Klassik von LP klingt für mich unsäglich schlecht, es darf nicht knacksen und rumpeln, und die alten Aufnahmen vor 1975 waren zu 80 % klanglicher Schrott (ein Aspekt, den heutige Plattenspielerfans erfolgreich verdrängen). Aus Preisgründen kaufte ich manche Klassik noch auf LP, bemerkte aber leider, dass ich viel lieber und intensiver der Musik lauschte, wenn sie nicht von LP kam: Sie war dann besser aufgelöst, hatte Attack und Schwung, war knack-, rausch- und rumpelfrei und vor allem: Sie trötete und quäkte nicht, zumindest wenn die Aufnahmen nach 1980 entstanden waren.
Innerhalb von 3 Jahren besaß ich 300 Klassik-CDS, für einige Jahre lang hatte ich sogar mehr Klassik als sonstige Musik im Regal. Der jpc-Versand hat gut an mir verdient, sein Jahreskatalog wurde mir zum Nachschlagewerk und machte mich als Wegweiser auf neue Suchrichtungen aufmerksam (Epochen, Nationalitäten). In ihm lernte ich durch Versuch und Irrtum, die Lebensdaten und kulturelle Nationalität eines Komponisten ("Saint-Saens, Camille 1835-1921") als wertvolle Hinweise auf Tonalität und Stil seiner Musik aufzufassen.
Ich steckte alles Ersparte in Musiksoftware, bis ich ein gutes sinfonisches Repertoire von Beethoven bis Prokofiew, d. h. schwerpunktmäßig von 1800 bis ins 20. Jahrhundert hinein beisammen hatte. Mit diesem Sammlungsschwerpunkt bin ich bis vor Kurzem streng genommen kein Klassikhörer gewesen, sondern hänge eher den Romantikern, Spätromantikern und ihren Erben an. Old Haydn zum Beispiel, igitt..... (außer mancher Kammermusik.... und sein Trompetenkonzert, in dem ich allerdings mit 23 einschlief.....

..... und die "Schöpfung", nur suche ich noch die Aufnahme davon, die zu mir passt..... und sein Lerchenquartett, das neulich beim Kartoffelschälen auf Kulturradio lief......und [...]).
Streng genommen bezeichnet der Begriff "Klassik" ja nur ein enges Zeitfenster gegen Ende des 18. Jahrhunderts, weshalb ich selber den Begriff "Klassik" überhaupt nicht mag.
Aber noch viel schlimmer sind die verhängnisvollen Etiketten "U-Musik" und E-Musik" (s. o.)......
Parallel begann ich nach dem Wehrdienst auch in klassische Konzerte zu gehen. Auch dort bemerkte ich wieder, das "Klassik" entscheidend von guter Qualität abhängt: Die regionalen Orchester ließen mich oft einschlafen (physiologisch, wie gesagt...). Kamen internationale Orchester auf Tournee nach Mannheim, dann ging im Rosengarten durchaus mal die Post ab! Der Hammer schließlich war Beethovens vielfach ausgelutschte 5. Sinfonie in einer märchenhaften Sternstunde der Budapester Staatssinfoniker unter
Ken-Ichiro_Kobayashi. Hinterher rastete das Publikum völlig aus, die Musiker ehrten ihren Chef, indem sie bei seiner 3. Aufstehgeste plötzlich wie ein einziger Organismus spontan auf ihren Plätzen sitzen blieben - und in den Applaus einstimmten! Kobayashi schwang erneut die Arme, dann noch einmal... das Orchester blieb sitzen und aplaudierte dem Chef! Kobayashis Körperspannung fiel, er drehte sich um zum Publikum und verneigte sich tief, ganz langsam und überglücklich. Einer der schönsten Momente, den ich je im Rahmen klassischer Musik erlebt habe.
Der schon 70-jährige Vater eines Schulfreundes war totaler Klassik-Spezialist und ernsthafter Hobby-Komponist, wir sprachen aber kaum darüber. Stolz brachte ich ihm eine meiner Neuentdeckungen mit, weil selbst er sie NICHT kannte: Liszts Faustsinfonie. Er fand sie eher... spießig...

und legte als cooler 70-Jähriger in Sachen Faust so richtig einen drauf. Nämlich seinen erklärten Lieblingskomponisten. Der hieß Gustav Mahler. Das war so ein schrecklicher moderner Spinner, wie ich von meiner Mutter wusste.... Ich schlief im Sessel ein bei Mahlers 8. Sinfonie (Vertonung des Endes von "Faust II")...
Aber dann nahm ich mir in der Folge doch so Manches vom Mahler-Bestand des Herrn in guter Qualität auf Cassette auf (Kenwood KX 1100 HX). Vor allem hörte mir immer wieder die letzten 10 Minuten der 8. Sinfonie an (Boston SO, Ozawa; unsauber gespielt und unglaublich mitreißend...). So etwas Herrliches hatte ich noch nie gehört! Mahler selbst schrieb darüber: "Es ist das Größte, was ich bisher gemacht. Und so eigenartig in Inhalt und Form, daß sich darüber gar nicht schreiben läßt. - Denken Sie sich, daß das Universum zu tönen und zu klingen beginnt. Es sind nicht mehr menschliche Stimmen, sondern Planeten und Sonnen, welche kreisen."
Die schönste Musik der Welt für mich, mit leichten Einschränkungen und Erweiterungen (mit dem Schlussatz der 10. zum Beispiel hat Mahler sich selbst auf eine völlig andere Weise getoppt. Dort draußen im Universum fliegt er, dieser fantastische Geist, und in seinen letzten Monaten hat er uns auf unaussprechliche Weise davon erzählt. Ein unglaublicher Abschied von Erdenleid und in den letzten Takten - sekundenlang gebrochen vom letzten aufbegehrenden "Almschi"-Ausbruch - ein wortloser Ausblick in die Unendlichkeit...... Tipp: Junge Deutsche Philharmonie, Rudolph Barschai. Die allererste Klassikaufnahme, die durch bloße Internet-Mund-zu-Mund-Propaganda ein verblüffender Verkaufshit wurde)!
15 Jahre später wurde das Abschlussfeuerwerk der Olympiade in Sydney zum Ende von Mahlers 8. aufgeführt - unverständlicherweise soll es (einige wenige) Menschen geben, die das ungekehrt sehen. Ts ts... . Als das kleine Städtische Orchester Heidelberg geschätzt 1989 ein Betriebsjubiläum

hatte, führte man zum feierlichen Anlass Mahlers
ziemlich kleine 1. Sinfonie auf - mit vielen ausgeborgten Zusatzmusikern.... Ich schleppte Herrn S. - und sogar meine Mutter - mit in dieses schöne Matinekonzert. Danach fing ich vorsichtig mit dem "Rest" von Mahler an. Am meisten bezaubern mich immer noch die Tennstedt-Einspielungen auf EMI mit den Londonern.
So wurde Herrn S. Lieblingskomponist Jahre später auch der meine. Auch das ist Klassik. Wunderschön schloss sich unvermutet ein Kreis, als ich ihn mit Rekonstruktionen von Mahlers 10 Sinfonie in Kontakt brachte, die der Komponist vor seinem frühen Tod nicht mehr ganz zu Ende orchestrieren konnte. Herr S. hatte solche Aufnahmen als "nicht Mahler" sein Leben lang brüsk abgelehnt. Ich ließ ihm die CD mit James Levine da, monatelang sollte ich nichts mehr davon hören. Ein Dreivierteljahr später erkundigte ich mich bei seinem Sohn nach dem Verbleib... Herr S. war erst desinteressiert, dann perplex gewesen, wieviel "Mahler" in dieser Musik lebte! Mahler, den er so noch nicht kannte! Er hatte daraufhin Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um in London ein Faksimile von Mahlers Autograph zu ergattern, und begann eine spannende Auseinandersetzung mit dem letzten erhaltenen Werk dieses schöpferischen Geistes..... Ich bin glücklich darüber, dass sich solch ein Kreis in meinem Leben geschlossen hat, wie die Reise des Regentropfens, von der Quelle zurück zur Quelle...
Nicht dass ich ständig Mahler höre - er soll mir ja etwas Besonderes bleiben. Ich will mich nicht übersättigen (eigentlich könnte ich ja nachher mal die Cabasse damit füttern. Nur so ein bischen. 90 Minuten lang die 3. Sinfonie vielleicht? Über die Kera 360.1 war es im Dezember ja schon schlicht der Wahnsinn! Diese fantastisch klingende analoge DDR-Aufnahme von 1985 mit Heinz Rögener und seinem Radiosinfonieorchester Berlin... mit dieser verblüffend tänzerischen Einspielung könnte man die gesamte Sinfonie als kraftvolles Ballet mit Berliner Schülern aufführen! Das ist wirklich kein Scherz von mir, ich meine es ernst! Seit seit einigen Wochen überlege ich, dem erklärten Mahlerfan Sir Simon Rattle diesbezüglich eine Email zu schicken....oder Yoel Gamzou....Bernstein hat ja damals ein asketisches Streichquartett kurzerhand mit einem kompletten Streichorchester unisono spielend aufgeführt, einen sensationellen Erfolg gelandet und gesagt "Das geht nur mit
diesem Streichquartett". Mahlers Dritte ergibt gut gemacht ein kraftvolles (aber vielschichtigeres) Ballet wie Sacre du Printemps. Das geht natürlich nur mit seiner
3. Sinfonie.......)
Bei keinem anderen Komponisten habe ich solche tiefen Erlebnisse, wie bei seiner Musik. So manchen Klassikmuffel habe ich schon in die 1. Sinfonie geschleppt, 1950 fast vergessen (außer von Klemperer, der als junger Dirigent bei Mahler assistiert hatte und darum wusste, wie diese Musik klingen soll) füllt Mahler heute die größten Säle.
Das hat etwas zu bedeuten. Vielleicht führt dein Weg nicht über typisch klassische Einsteigerkost, sondern über so etwas?
Mittlerweile bin ich Mitte Vierzig. Noch immer gehe ich sehr häufig in Kozerte aller Spielrichtungen, mal mit, mal ohne Gehörstöpsel. Tatsächlich habe ich in den letzten Jahren auch Mozart gerne hören und lieben (!!!) gelernt, und seit Kurzem spüre ich sogar, wann der Meister der Leichtigkeit sich beim Komponieren schwer und kummervoll fühlte.
Er deutet es in kleinsten Gesten an, meist in leicht verzögerten Akkordwechseln. Punktuell. Das dauert kaum mal länger als eine Sekunde, aber ist auch für mich inzwischen unmissverständlich. Ich brauche dringend eine Einspielung seiner letzten Sinfonien von Josef Krips - davon hörte ich neulich beim Duschen auf Kulturradio einen Satz, und da war er, der unvermutete Mozart: Jener Romantiker, der Mozart eben doch geworden wäre, wäre ihm ein ähnlich langes Leben wie Beethoven vergönnt gewesen, der immerhin 57 Jahre alt wurde. Die Tendenz ist schon zu spüren.... heute noch.
Und sogar der (für mich! Just my 2 cents!) absolut unerträglich
nervöse, dabei klangfarblich und tonal so monotone und schulmeisterliche JS Bach (sein Sohn CPE Bach ist für mich schon eine ganz andere Musiker-Hausnummer: abwechslungsreich und anzuhören auch ohne 6 Semester Musiktheorie, spritzig, aufbegehrend, der nächste Takt unvorhersagbar wie sonst erst viel später in der Musikgeschichte ab Beethoven ff. Kein Wunder, dass Vater und Sohn sich als Musiker gar nicht nicht gut verstanden haben.) - Punkt. Nochmal von vorne: Selbst der quecksilbrige JS Bach "hat" mir in den letzten Jahren überraschend Inseln in seinem Riesenopus offenbart, in denen für mich zeitlos die Musik aufgeht: Die Violinkonzerte z. B., oder die Pinnock-Einspielung der Brandenburgischen Konzerte. Überhaupt Bachs
weltliche Musik, z. B. auf dem modernen Konzertflügel mit Murray Perrahia oder Martin Stadtfeld. In seiner religiösen Musik erfreuet mich gar manches Orgelvorspiel. Und natürlich das härteste und gewaltigste Stück Rockmusik aus der Zeit vor 1950: Bachs aufrüttelnde "Toccata + Fuge d-moll" (toccare, ital. ergreifen, berührend sein; betätscheln, zudringlich werden), die ich mir schon als Oberstufenschüler zugelegt hatte (Orgel von St. Nicolai, Hameln. Hans-Christoph Becker-Foss. 1980 auf Intercord erschienen). Übrigens verstand ich nie, dass diese traurig-leidenschaftlich aus den Pfeifen düsende, so quicklebendige wie fundamentale Musik vom gleichen Komponisten stammen kann, wie all diese in ihrem kompositionstechnischen Korsett stakenden Kantaten und Oratorien, deren Sänger auf einer einzigen Sprachsilbe minutenlang immer nur den Wagen vor- und zurücksetzen, vor- und zurücksetzen, vor- und zurücksetzen, ohne dass dabei (für mich) ein einziges Mal ein Mantra herauskömmt. Da reißt mein Faden zurück ins Zeitverständis leider ab, diese Art von Musik bleibt mir unzugänglich. Zumindest bis heute.... Heute weiß ich außerdem, dass manche Spezialisten die rebellische, unerbittliche Toccata und Fuge d-moll anderen Komponisten zuschreiben..... Ich habe es schon als junger Mann gefühlt.
Und übernächsten Montag liebe ich vielleicht zum ersten Mal eine Bachkantate? So eine total verstaubte? Vom (für mich) "richtigen" Dirigenten? Das hört nie auf.....
Mein Fazit:
Klassik ist keine Musiksparte unter vielen. Sie ist ein ganzer Kosmos. Du glaubst allen Ernstes, dass du Klassik insgesamt nicht magst? Möglich ist das. Aber wenn du ansonsten andere Musiksparten sehr gerne magst, glaube ich dir das nicht. Vielmehr hast du das Unglück, dass du noch nicht die Sonnensysteme entdecktest, wo deine persönlichen Musiken auf dich warten. Welche das sind? Tipps geben wir alle nur zu gerne. Doch nur du selbst kannst herausfinden, was zu genau dir - ja, dir! - am besten passt. Irgendwann wirst du zu finden dann zu genießen beginnen.
Das - ist Glück!
